natürlich GESUND
Samstag, 19.05.2007      

Ihr Weg zu Harmonie und Lebensfreude
Ihr Weg zu Harmonie und Lebensfreude




Schamanismus in der alltäglichen Praxis

Was Schamanen heilen können

Heute kam der erste Anruf von Marco. Er sagte gleich, dass er 34 jährig sei. Und damit beendete er auch seinen Anruf: „Ich bin doch erst 34. Ich will wieder arbeiten, Sport treiben. Ich will wieder sein wie vor dem Unfall. Kann mich Schamanismus heilen?“

Marco leidet seit über einem Jahr an den Folgen eines Schleudertraumas. „Seither läuft nichts mehr in meinem Leben. Täglich Schmerzen, Energie und Hirnleistung null,“ klagte er. Deswegen habe er die Arbeit verloren. Jetzt halte die Partnerin seine dauernde „Depro-Stimmung“ nicht mehr aus. Darum rufe er an. „Ich will sie nicht auch noch verlieren. Wir wollen bald Kinder. Jetzt muss sie 100% arbei-ten. Sonst reicht’ s nicht mal für die Wohnung.“ Die Therapievorschläge seiner Ärzte habe er alle be-folgt, auch alternative Methoden versucht. Sein Anwalt, der seine Interessen gegenüber der Versiche-rung vertrete, habe ihn neulich gefragt, ob er sich die Beschwerden vielleicht nur einbilde. „Leiden und nicht ernst genommen werden, das ist das Schlimmste.“ Marcos Leidensdruck war durchs Telefon deutlich spürbar. Wir vereinbarten einen Termin. Leider muss er eine lange Wartefrist in Kauf neh-men.

Es gibt kaum ein Leiden, für das ich in den letzten Jahren nicht um spirituelle Hilfe gebeten wurde: Allergien, Migräne, Herz-Kreislauf-Leiden, Magen-Darm-Erkrankungen, Wirbelsäulen-Probleme, alle Arten Tumore, MS, ungewollte Kinderlosigkeit und die psychischen Leiden, v.a. Depressionen und Psychosen, Angst- und Panikattacken, aber auch Burnout, Lebens- und Entwicklungskrisen, Selbstfindungs- und Laufbahnprobleme, Sterbebegleitung, Trauerarbeit, Besetzungen von Menschen und Orten.

Menschen scheinen intuitiv zu verstehen, dass Schamanismus nicht Diagnosen behandelt, sondern den ganzen Menschen in eine neue Harmonie mit den Lebensgesetzen, -rhythmen und -kräften begleitet. Schamanismus ist energetische Transformationsarbeit und kann die Heilarbeit des Arztes und des Psychotherapeuten positiv verstärken. Er steht im Ruf, dort Wunder zu vollbringen, wo herkömmliche Heilmethoden an Grenzen stoßen. Doch Wunder sind nicht machbar. Wir müssen sie der Schöpfer-kraft des Lebens überlassen. Trotzdem habe ich in den vergangenen zwölf Jahren, seit ich als scha-manischer Begleiter arbeite, oft miterleben dürfen, wie Menschen sich nach Heilritualen unvermittelt am Anfang eines neuen Lebens gefunden haben. Da war Franz, sein inoperabler Tumor unter dem hinteren Rand der Schädeldecke hat sich nach mehreren Sitzungen zurückgebildet. Die Lähmungen lösten sich. Er hat sich eine neue Arbeit gesucht und nochmals geheiratet. Vera kam im Rollstuhl. Sie litt an Multipler Sklerose. Nach der Sitzung ging sie auf einen Spaziergang. Natürlich überforderte sie sich dabei aus Freude, wieder selbständig gehen zu können. Iris war dreizehn, als bei ihr epileptische Anfälle auftraten. Nach vier Sitzungen sind sie nicht wieder gekommen. Die Schuppenflechten von Ralph verabschiedeten sich im Laufe mehrerer Heilrituale nach jahrelanger Resistenz, zurück ließen sie einige Narben. Mit vielen depressiven Menschen bin ich durch die dunkelsten Zeiten gegangen, bis wir ihre Quelle der Lebenskraft gefunden haben. Viele leben heute ein aktives und erfülltes Leben.

Ich weiss, dass Geschichten über sogenannte Wunderheilungen gerne gelesen werden. Sie vermitteln Hoffnung. Dennoch will ich sie kurz halten. Sie nähren das Vorurteil, der Schamane vollbringe das Wunder. Viele Schamanen lassen sich dafür auch gerne feiern. Und immer wieder wird man gefragt, welches Heilritual für welches Leiden das wirkungsvollste sei? Sie sind nicht die Heilung. Heilrituale sind nicht Werkzeuge für eine spirituelle Reparatur. Sie sind Zeremonien zum Gestalten der heilenden Schöpferkräfte, um sie unmittelbar zur Wirkung zu bringen. Die Heilung selbst ist eine Vereinbarung zwischen dem Heilung suchenden Menschen und den Lebenskräften. Mein Anteil daran ist vergleich-bar mit dem Anteil eines Postboten an der Wirkung eines überbrachten Briefes oder dem Anteil eines Mesners an der Gotteserfahrung eines Gottesdienstbesuchers.

Letztlich haben Franz, Vera, Iris, Ralph mit der Kraft ihres Leidens und ihrer Heilungs-Sehnsucht die Heilkräfte herbeigerufen. Außerdem tragen alle Leiden die Weisheit ihrer Heilung immer schon in sich. Daher sind für mich die Klienten und Klientinnen die eigentlichen Schamanen. Sie verfügen über die Kraft und Weisheit zur Heilung. Sie aber kommen als Hilflose an, ja Schwache, Opfer, Versager, Schuldige. Mich sehen sie als Experten, Autorität, ja sogar als unheimlichen Magier, der sich auf ma-gische Kräfte verlässt, statt Lehrbücher konsultiert, und mit Hilfe uralter Rituale die Ursachen ihrer Leiden aufspürt, sie an der Wurzel packt und ausreist oder sich von den Geistern ein Heilkraut geben lässt.

Unser gesellschaftliches Denken über Krankheit, Heilung und Gesundheit wird beherrscht von drei tief verwurzelten Überzeugungen. Erstens ist Krankheit ein Defekt, eine Fehlfunktion, ein Mangel, der behoben, repariert werden muss (Reparatives Heilen). Zweites erleben wir uns als Produkt unserer Lebensgeschichte. Darum suchen wir Ursachen unserer Leiden immer in der Vergangenheit. Drittens leben wir in einer entzauberten Welt. Unser rationales Denken lässt keine Wunder zu. Obwohl gerade Menschen, die zum Schamanen gehen, insgeheim auf ein Wunder hoffen. Ich möchte diese drei Überzeugungen durch zwei Alternativen bereichern. Sie sind Teil einer schama-nischen Kosmologie des Heilens, die im Laufe der Jahre gemeinsam mit meinen Klienten entstanden ist. Sie darzustellen fehlt hier der Raum.

Heilung im Meer der Lebenskraft

Wenn Klienten mir zur Begrüssung die Hand reichen, nehme ich sie wie die Hand eines Schamanen, den mir die Geister für unsere gemeinsame Heilung gesandt haben. Mit ihrer Hilfe sterben wir im Heilritual gemeinsam aus dem bisherigen Leben, tauchen ein ins Meer der Lebenskräfte und werden daraus wieder geboren. Marco ist durch den Unfall aus dem Arbeitsprozess gestorben, aber auch aus seiner aktiven Teilnahme an Sport und Freizeit, jetzt ist auch sein Beziehungsleben bedroht, vielleicht sein ganzer Lebensplan, der sich an den gesellschaftlichen Familienmustern orientiert hat. Seine ganze Vitalität ist reduziert. Ähnlich ist es Laura ergangen. Plötzlich aufgetretene Panikattacken und Angstzustände haben sie so-gar zu sich in Distanz gebracht. Sie konnte sich selbst und ihre Reaktionen nicht mehr verstehen und auch nicht akzeptieren.

Man könnte Marco in der jetzigen Lebenslage mit einem Fisch vergleichen, von einer Sturmwelle des Schicksals an Land geworfen. Nun sitzt er gleichsam auf dem Trockenen. Abgeschnitten vom Meer der Lebenskraft, windet er sich im Kampf gegen sein langsames Sterben. Das Heilritual soll Marco mit einer ähnlich starken Welle wieder ins Meer der Lebenskräfte zurückbringen. Mein Trommeln auf dem Heilplatz, das Singen, Herbeirufen der Geister, meine rituellen Handlungen, die Geschichten sol-len uns beide ins Meer der Lebenskräfte eintauchen lassen. Was sie bei Marco ausrichten, habe ich nicht in der Hand.

Die Metapher vom Meer der Lebenskraft hilft mir anzunehmen, dass ich auch nach vielen Jahren schamanischer Heilarbeit nicht weiß, was geschehen ist, wenn die Folgen eines Schleudertraumas nach ein paar Heilsitzungen verschwinden, wie unlängst bei Gerda, wenn die Schuppenflechten sich verabschieden, wenn eine Getreideallergie abklingt, wenn epileptische Anfälle ausbleiben.

Nur eines weiss ich bestimmt: die Natur kennt keine Reparaturkräfte. Es sind die ursprünglichen Schöpferkräfte des Lebens aus dem Urmeer der Lebenskraft. Sie wandeln, transformieren und heilen. Ich wünsche jedem Menschen einen Ort zum Eintauchen in die Schöpferkräfte, ob im Wind, Wasser, Feuer oder in der Erde.

Krankheit und Heilung als Flussüberquerung

Wenn heutige Menschen zum Schamanen kommen, prallen zwei Weltbilder aufeinander, die unter-schiedlicher nicht sein könnten. Und genau darin liegt eine weitere Chance archaisch-spiritueller Heilweisen. Der Schamane ruft die heilen Lebenskräfte. Die herkömmlichen Heilmethoden suchen in der Vergangenheit nach den Kräften, die Leiden verursachen.

Klienten sagen oft: „Ich bin in den Sumpf geraten. - Mir steht das Wasser bis zum Hals. - Ich ertrin-ke.“ Unsere Seele führt uns immer wieder an den Fluss, der zwei Leben trennt, wenn ein Lebensab-schnitt vollendet ist, der Lebenssinn sich erfüllt hat. Beim Heilritual steigen wir gemeinsam hinein, tauchen ein, und erreichen mit der Hilfe unserer Verbündeter ein neues Land, um dort ein neues Leben zu beginnen.

Wenn Ralph sagt, er habe in der Pubertät nach der Trennung seiner Eltern den ersten Anfall von Pso-riasis gehabt und seither in Stresssituationen öfters mit Hautproblemen reagiert, dann legt seine Erzäh-lung nahe, im unverarbeiteten Schock über die elterliche Trennung die Ursache für seine Hautproble-me zu sehen und sich an die Aufarbeitung der Vergangenheit zu machen. Wir sind aber nicht zurück-gegangen.

Auf Anraten meiner Verbündeten sind wir in den Fluss gestiegen und haben die Psoriasis den heilen-den Wassern übergeben. Auf der anderen Flussseite angekommen, baute sich Ralph ein ganz neues Leben auf mit Berufswechsel, einer neuen Partnerin an einem neuen Wohnort. Die größte Wandlung aber war, dass er vom Karrieremensch zum (Lebens-)Künstler geworden ist. Jedes Leiden ist die Krise der ganzen Persönlichkeit. Wie wird es bei Marco sein? Ist das Schleudertrauma die Krise zu Beginn eines neuen Lebens? Er ist doch erst vierunddreißig und hat seinen früheren Lebensplan noch längst nicht verwirklicht. Er will nur, dass ich ihm helfe, wieder zu werden wie vor dem Unfall, so wie alle Menschen eben nur die Behebung des Gesundheitsschadens wollen. Doch der Schamane sucht nicht nach Ursachen, nicht nach den krankmachenden Kräften.

In seinem verzweifelten, ängstlichen aber auch wütenden Hilferuf bricht jene Kraft durch, die Heilung ermöglicht. Zwar will Marco kein neues Leben. Wenn schon, will er trockenen Fusses über den Fluss, der ihn nun von seiner Zukunft trennt, um drüben den alten Weg weiter zu gehen. Krankheit, Unfälle, Schicksalsschläge sind Einschnitte ins Leben, die Heilung auch.

Es ist das Aufbäumen der archaischen Lebenskraft im Schmerz, in der Auflehnung gegen die Ohn-macht, ja Heftigkeit und Intensität des Leidens selbst, die den Heilung Suchenden und den Fluss ver-einen, in den sie das Leben geworfen hat. Und es ist die Heilungssehnsucht, die letztlich der tiefen Gewissheit der Seele entspringt, dass Heilung geschehen kann, die ihn über den Fluss bringt. Wenn wir uns nur erlauben könnten, sie geschehen zu lassen, auch wenn das Land der Zukunft noch unge-wiss ist. Das Überqueren des Flusses verwandelt die Menschen. Darum bleiben manche im Sumpf-land des alten Flussufers stehen. Das gewohnte Leiden scheint erträglicher als die Ungewissheiten eines gewandelten Lebens.

Die Metapher des Flusses hilft auch zu verstehen, dass Krisen, Krankheit und Leiden unausweichlich zum Leben gehören, so wie der Tod. Die Ursachen von Krankheit liegen nicht unbedingt in der Ver-gangenheit. Der kranke Mensch hat sie nicht durch Unachtsamkeit, Unterlassungen, ja Fehlverhalten mitverursacht. Krankheit mit Anklagen, Schuld, Selbstverurteilung, Schwäche zu verbinden, macht das Leiden nur größer und blockiert die Heil- und Wandlungskräfte.

Unsere Vorstellung vom Leben ist Entwicklung, Wachstums, Fortschritt, Aufstieg. Flüsse, die uns scheinbar willkürlich den Weg abschneiden, haben keinen Platz in unserer Lebenslandschaft. Sie sind Behinderungen, Unglück, Missgeschick, Schicksalsschläge. Sie kommen ungelegen oder müssen überbrückt sein, damit wir trockenen Fusses ungehindert den alten Weg fortsetzen können. Die Natur aber gestaltet auch ihr Sterben, ihre Verwandlung. Der Frühling beginnt mit dem Tod der Knospen. Das Blühen ist gleichzeitig ein großes Blütensterben. Sie sterben in die Früchte, diese in die Samen und die Samen sterben in die Erde, wo sie einen neuen Zyklus beginnen.

Ich wünsche allen Menschen einen Ort, wo sie mit der Natur ihr eigenes Gesund-Sein mitgestalten können.

® Carlo Zumstein, Bülach, 2006

Infos:
Dr. Carlo Zumstein
Psychotherapeut und Schamane
FLSS – Foundation for Living Shamanism
Postfach 626
8180 Bülach
Tel. (0041) (0)43/3558200
www.flss.ch

aus Natürlich GESUND - 10. Jahrgang - Nr. 7 - Oktober 2006



 
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