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Freitag, 25.05.2007      

Ihr Weg zu Harmonie und Lebensfreude
Ihr Weg zu Harmonie und Lebensfreude




Wie ein Schweizer Brei die Welt eroberte


In einer frühen Morgenstunde des 22. August 1867 loderte aus der Kirchenglocken-Giesserei im schweizerischen Aarau ein Flammenmeer gen Himmel. Ob dieser Feuersbrunst erschreckte sich eine schwangere Frau im Nachbarhaus dermassen, dass sie zwei Monate zu früh gebar – ihren zweiten Sohn Max, der später zum Jahrhundert-Schweizer werden sollte. Den zähen Überlebenswillen und die immense Schaffenskraft hatte er wohl von seinen bergbäuerlichen Vorfahren ererbt.

Maximilian Oskar Bircher-
Benner (1867–1939) – engagierter
Arzt, Klinikgründer, Ernährungsreformer,
Pionier der Vollwertkost und
Erfinder des Birchermüsli.
Die Rede ist von Arzt, Klinikgründer und Ernährungsreformer Maximilian Bircher-Benner. Schon als Jungmediziner galt seine Neugierde den aufkeimenden Naturheilverfahren, vorab den Wasserkuren. So eröffnete er denn bereits als Dreissigjähriger 1897 in der Limmatstadt eine kleine Siebenbetten-Privatklinik mit Hydrotherapie und war später Mitbegründer einer der ersten Zürcher Badeanstalten.
Sein grosser Wurf gelang ihm vor einem Jahrhundert, als er 1904 am Zürichberg, nicht weit vom noblen Hotel Dolder, sein Sanatorium „Lebendige Kraft“ eröffnen konnte, ein patriarchalisch geführtes Familienunternehmen, die spätere Bircher-Benner-Klinik. (Das ehemalige Sanatoriumsgebäude steht heute noch, dient nun aber einem internationalen Finanzdienstleister als Entwicklungszentrum.)
Hier konnte Bircher-Benner sein reformmedizinisches Programm im Kampf gegen die „zunehmende Konstitutionsverschlechterung der Kulturmenschheit“ (O-Ton eines Klinikprospekts) auf sein Patientengut projizieren. Selbst internationale Prominenz wie etwa Golda Meir oder Yehudi Menuhin unterzog sich hier dem extrem gestrengen Kurregime, das Thomas Mann in einem Brief als „hygienisches Zuchthaus“ apostrophierte, in dem er sich als „Gras essender Nebukadnezar“ fühle …

Bircher-Benner und Kellogg

Zwei Hauptströmungen prägten damals die Ernährungsrevolution: Was der radikale Doktor vom Zürichberg, Maximilian Oskar Bircher-Benner (1867–1939) in der Schweiz, war zeitgleich der adventistische Arzt und Corneflakes-Erfinder John Harvey Kellogg (1852–1943) in der Neuen Welt, wenn auch reichlich unterschiedlich: Der Amerikaner aus Michigan symbolisierte Industriefood und vegetarische Kost, der Schweizer vollwertig-naturnahe Rohkost.
Gemeinsam war ihnen, und dies gilt auch für ihren Vorläufer, Sylvester Graham (1794–1851), den Presbyterianer aus Connecticut und Vater der modernen Ernährungsreform (Grahambrot), dass sie einer moralischen Physiologie huldigten – und dabei ausgegorene Patriarchen waren, die jedoch der Feminisierung des Essens den Weg bereiteten. Sie waren nachgerade die Inkarnation der These der englischen Sozialanthropologin Mary Douglas, wonach sich Reinheitsstreben und hierarchisches Denken gegenseitig bedingen.
Zudem scheint es eine Gesetzmässigkeit zu sein, dass Naturärzte durch persönliche Lebensumstände und eigene Krankheit auf das Thema ihres Lebens stossen und dadurch zu grosser Tatkraft beflügelt werden. Alle drei hatten ein schwieriges Jugendumfeld, Kellogg erkrankte an Tuberkulose, Bircher-Benner litt an Schlafstörungen und Herzbeschwerden. Die Naturheilkunde – eine Erfahrungsmedizin?

Von Alphirten inspiriert

Bircher-Benner gehört zu jenen Reformern, die am tiefgründigsten über das Wechselspiel zwischen Essen, Körper und Gesellschaft reflektiert haben, und mit viel Spürsinn hat er Weisheiten vorweggedacht, die heute ernährungswissenschaftliches Allgemeingut sind. Er begegnete der bürgerlichen Braten-, Speck- und Schweinebauchgesellschaft als Mahner, indem er der Rohkost und der pflanzlichen Ernährung das Wort redete und dabei Qualität vor Quantität und Leichtes über Schweres setzte.
„Sonnenlichtnahrung“ war seine Theorie, die Rückkehr zu einem Leben in Harmonie mit der Natur, so wie er es in den Lebensweisheiten seiner bergbäuerlichen Ahnen verwirklicht glaubte. So hat er denn auch immer Wert darauf gelegt, dass die konkretisierte Quintessenz seiner Ernährungsphilosophie, das Birchermüsli oder „d’Spys“, wie er schlicht sagte, verwandt sei mit der Nahrung helvetischer Alphirten, die in seinen Augen ein besonders gesundes, weil naturnahes Leben führten.So reiht sich denn das Bircher’sche Müsli eigentlich in die lange Tradition der Getreidemus-Speisen und Frühstücks-Getreidebreie ein, die bis zur Industrialisierung den bäuerlichen Speisezettel bestimmten, das also, was der Schweizer Dichter Gotthelf so arg vermisste, als er 1821 in Göttingen studierte. Bei Bircher-Benner stand allerdings nicht das Getreide, sondern der Apfel (samt Kerngehäuse) im Zentrum seiner Gesundheitsspeise. Was heute alles unter dem Begriff „Birchermüsli“ segelt, hat mit dem Originalrezept nicht mehr viel zu tun.

D’Spys – das Originalrezept

Ohne zu ahnen, dass dereinst in der Agglomerationsgesellschaft die Einzelhaushalte dominieren würden, hat Bircher-Benner seine symbolträchtige Rohkostspeise, die er liebevoll „d\'Spys“ nannte und die ein Welthit werden sollte, nicht etwa – wie in bürgerlichen Kochbüchern üblich – für eine vierköpfige Familie, sondern für eine Einzelperson berechnet. Für sein Birchermüsli waren Zutaten und Zubereitung von gleich grosser Bedeutung:

Zutaten:
  • 2–3 kleinere oder ein grosser Apfel – samt Schale und Kerngehäuse
  • 1 Esslöffel geriebene Wal- und Haselnüsse sowie Mandeln
  • 1 gestrichener Esslöffel Haferflocken, 12 Stunden vorgeweicht in 3 Löffel Wasser
  • Saft einer halben Zitrone und 1 Esslöffel gezuckerte Kondensmilch

Zubereitung:
Zuerst werden Kondensmilch und Zitronensaft unter die Haferflocken gemischt, dann der Apfel auf der Raffel gerieben und laufend unter den Brei gemischt, damit die appetitliche, weisse Farbe des Fruchtfleisches erhalten bleibt. Wichtig ist, dass die Zubereitung unmittelbar vor dem Essen erfolgt. Die geriebenen Nüsse (als Eiweiss- und Fettergänzung) werden bei Tisch aufgestreut.

Genuss:
Bircher-Benner empfahl sein Müsli als Frühstück, Abendbrot oder ersten Gang beim Mittagsmahl – niemals jedoch als Nachtisch oder gar als Mahlzeit. Die Hauptsache der Spys war der Apfel, nicht das Getreide; deshalb die bewusst kleine Menge davon. Und im Gegensatz zu traditionellen Getreidespeisen wird das Müsli – zur Freude der Küchenkraft – kalt genossen.

Die Crux:
Wenn Bircher-Benner sähe, was heute alles für Mischmasch-Kreationen unter dem Begriff „Birchermüsli“ feilgeboten werden, und wenn er wüsste, dass der Name seiner Gesundheitsspeise im geflügelten Wort für „schreckliches Durcheinander“ steht (Das ist ein schönes Birchermüsli!), dann würde er sich wohl im Grabe drehen …

Globaler Siegeszug

Die Gretchenfrage ist wohl die, warum eine solche Traditionsspeise zum Welthit und Dauerbrenner wurde und auch heute noch aktuell ist. Der Leiter des Bircher-Benner-Archivs am Medizinhistorischen Institut und Museum der Universität Zürich (wo der 160 Laufmeter umfassende Nachlass der Klinik betreut wird), der Volkskundler und Medizinhistoriker
Eberhard Wolff, weiss eine plausible Antwort: Das heutige, variationsreiche Müsli ist multifunktional, geeignet für Gesundheits- und Ökobewusste, aber auch für Sportler und Rentner, für Alt und Jung, kurz für alle – und zudem ist es von globaler Geschmacksakzeptanz.
Es will ja schon etwas heissen, wenn ein Helvetismus wie der Begriff Birchermüsli – oder schlicht Müsli – Eingang findet in den kleinen Wortschatz von Internationalismen, die überall verstanden werden. Das hatten vorher nur wenige Wortgebilde geschafft, so etwa die Bezeichnung für die „Schweizer Krankheit“, das Heimweh, das übers Französische (le hemvé) und Englische (home-sickness) in den internationalen Sprachschatz vordrang.
Ob Müsli, Müesli,musli,mussly – oder wie immer der Kosebegriff für diese Symbolspeise der postmodernen, körperbetonten Gesellschaft heutzutage irgendwo auf der Welt heisst, er hält nicht nur die Erinnerung an einen der markantesten Ernährungsreformer des 20. Jahrhunderts wach, sondern schmeichelt zudem nachhaltig der Vorstellung über die Schweiz als einer unschuldig-naturnahen Alpenidylle.

Ein nach dem Prinzip „Zurück zur
Natur“ einladend hergerichteter
Rohkosttisch im sonnigen Speisesaal
von Bircher-Benners Sanatorium
„Lebendige Kraft“ (um 1910).
Einer der vielen prominenten Kurgäste
aus aller Welt: der amerikanische Violonist
und Dirigent Yehudi Menuhin
mit Gattin am Esstisch der Bircher-
Benner-Klinik (um 1950).

Auch Tieren zugetan

Der berühmte Arzt und Menschenfreund Bircher-Benner hatte auch ein Herz für Tiere. Oft traf man ihn auf Pferdes Rücken beim Morgenritt,wo er seinen visionären Gedanken freien Lauf lassen konnte. Dass auch Tiere gelegentlich musartige Nahrung erhalten – zum Beispiel das angefeuchtete „Mash“ für trächtige Stuten vor der Geburt – hat zwar nichts mit Bircher-Benner zu tun, belegt aber die vielseitige Verwendung von Musnahrung.
Besonders zugetan fühlte er sich seinen Pekinesen, die ihn stets begleiteten. Und fast rührend ist in diesem Zusammenhang die Geschichte vom Ende des grossen Lehrmeisters: Die mit der Pflege des im Sterben liegenden Bircher-Benner betraute Krankenschwester hörte am Abend des 24. Januar 1939 im Studierzimmer im Untergeschoss die Hündchen plötzlich webern und bellen, und es gelang ihr nicht, sie zu besänftigen.Als sie wieder ins obere Stockwerk zum Sterbezimmer eilte, teilte man ihr mit, dass der Doktor eben entschlafen sei …
Der Vater des Birchermüsli
und Pionier der biologischen Ganz-
heitsmedizin, Maximilian Oskar
Bircher-Benner, beim Genuss seiner
erfolgreichen „Spys“.
Das Sanatorium „Lebendige
Kraft“ im Eröffnungsjahr 1904 am
noch unverbauten Zürichberg;
nach dem Tod seines Gründers wurde
es Bircher-Benner-Klinik genannt.


Text: Heini Hofmann
Zootierarzt und Wissenschaftspublizist
Hohlweg 11 · 8645 Jona
Bilder: Bircher-Benner-Archiv/MHIZ


100-Jahr-Feier …

Das Bircher-Benner-Archiv am Medizinhistorischen Institut und Museum der Universität Zürich veranstaltet anfangs März in Erinnerung an die Gründung der weltberühmten Bircher-Benner-Klinik im Gebäude des ehemaligen Sanatoriums „Lebendige Kraft“ am Zürichberg eine Gedenkfeier und ein wissenschaftliches Symposium.
www.mhiz.unizh.ch/bb-symposium

… und Ausstellung

Das Museum „Mühlerama“ in der Mühle Zürich-Tiefenbrunnen widmet dem „Birchermüsli“ vom 29. 4. 2004 bis 31. 1. 3005 eine Sonderausstellung.
www.muehlerama.ch

aus Heilpraxis Magazin - 8. Jahrgang - Nr. 2 - April 2004

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