natürlich GESUND
Freitag, 01.06.2007


Richtiges Atmen – Schlüssel zu Vitalität und Wohlbefinden


«Es atmet der Mensch – nicht nur das Zwerchfell, nicht nur die Lungen, nicht der Bauch. Es atmet der Mensch.» Mit diesem Zitat beschreibt Karlfried Graf Dürckheim treffend, dass die Atmung über das Physiologisch-biochemische hinausgeht und als Spiegelbild die ganzheitliche Verfassung eines Menschen reflektiert.

Die Atemlehre nach Prof. Ilse Middendorf ist ein psychophysischer Ansatz bei dem das Empfindungsbewusstsein für den Atem geweckt und der Atem von innen her über das Leibliche erfahren wird. Es handelt sich dabei um eine Koppelung körperlicher Behandlung zur besseren Lungenfunktion und meditativer Techniken zum bewussteren Atmen. Im Mittelpunkt steht das Selbsterleben des Atems und die bewusste Atemwahrnehmung. Systematische Schulung des richtigen Atmens und bewusster Umgang mit der Atmung führt zu körperlichem, emotionalem und geistigem Wohlbefinden.

Geben und Nehmen
Wussten Sie, dass Sie jeden Tag über 20’000 mal ein- und ausatmen? Bis zum 60. Lebensjahr entspricht das der unglaublich hohen Anzahl von 500 Millionen Atemzügen. 500 Millionen Mal einatmen (nehmen) und 500 Millionen Mal ausatmen (geben). Ob Mensch oder Tier, alle teilen sich auf unserem Planeten dieselbe Luft. Es gibt im Überfluss davon, daher denkt niemand daran, Luft zu hamstern. Trotzdem, ein Beispiel aus dem Tierreich: Eine Gazelle, die von einem Löwen angesprungen wird, zieht schnell Luft ein und hält sie an. Sie hat Angst und hortet die Luft. Der Löwe andererseits atmet brüllend aus. Er ist frei von Angst! Im Ausatem liegt Urvertrauen. Daraus wird deutlich, wie aufschlussreich es sein kann, wenn wir in bestimmten Situationen unseren Atem beobachten – ohne ihn dabei kontrollieren zu wollen.

Qualität des Atems
Rhythmus (Schwingung), Freiheit und Bewusstheit des Atems beeinflussen alle Ebenen unseres Seins: Den Körper = Erhaltung des Lebens und Regeneration durch Zufuhr von lebenswichtigem Sauerstoff und Entgiftung durch Ausatmen von Kohlendioxyd. Den Geist = Konzentrationsfähigkeit, Aufmerksamkeit, Kreativität, Tatkraft etc. durch optimale Sauerstoffversorgung des Gehirns. Die Seele = Intuition und Stimmungsbarometer; fühlen wir uns wohl und glücklich, atmen wir frei und natürlich. Ist unser Wohlbefinden eingeschränkt, atmen wir verkrampft, hektisch und flach. Hier drückt sich der Atem auch körpersprachlich aus. Es geht also nebst der lebenserhaltenden Funktion der Sauerstoffversorgung beim Atmen um weit mehr. Richtiges Atmen kann ordnen, harmonisieren und heilen, falsches Atmen kann krank machen. Stellen Sie sich vor, wieviel Potential auf allen Ebenen unausgeschöpft bleibt, wenn nun jemand den Atem zwanzigtausendmal pro Tag etwas zurückhält, kurz, oberflächlich oder unbewusst-mechanisch atmet und dabei dem Ausatmen zu wenig Beachtung schenkt! Meistens nehmen Menschen den Atem nur dann wahr, wenn etwas «klemmt», eine Störung, eine Fehlatmung vorliegt. Hier suchen Betroffene Rat bei der Atemtherapeutin. Anhand von drei Beispielen aus meiner Praxis beschreibe ich Zusammenhänge und Behandlungsverfahren.

Chronische Bronchitis
Frau M., eine aktive pensionierte Dame,
machte vor drei Jahren eine starke Grippe durch. Seither plagte sie eine chronische Bronchitis und sehr störender Reizhusten. Die Hustenanfälle dauerten bis zu 15 Minuten, so dass Sie sich kaum noch an öffentliche Anlässe traute. Morgens litt sie oft unter etwas Atemnot. Ihr Arzt stellte eine Einschränkung der Lungenkapazität fest. Frau M. inhaliert täglich

. Ich nehme unter meinen Händen einen zarten, verhalten flachen Atem wahr. In Rückenlage ist Atembewegung nur gerade im sterno-costalen Dreieck deutlich. In Bauchlage ist es besser. Durch Dehnung der Lendenwirbelsäule und Anregen des Kreuzbeins kommt Atembewegung in den unteren Rücken und bis ins Becken. Frau M. lernt, sich auf diesen nonverbalen Dialog zwischen meinen Händen und ihrem Atem einzulassen. Dabei erfährt sie eine erste Gesetzmässigkeit des Atems: Wenn sie sich in eine Körpergegend sammelt, dort innerlich anwesend ist, ist auch der Atem plötzlich dort.

Im Verlaufe der Behandlung wecke ich die Atemkraft im Becken und arbeite an der Elastizität der Rippen. Frau M. lernt auch tagsüber nach innen zu horchen und aufmerksam ihren gegenwärtigen Atem wahrzunehmen. Sie wird zunehmend durchlässiger, atem- und empfindungsbewusster. In der 5. Einzelbehandlung verändert sich ihr Atem wesentlich. Er gewinnt an Tiefe und Kraft, wird voller, weich und geschmeidig. Die Klientin wird sich plötzlich bewusst, dass sie bis anhin ihren Atem klein gehalten hat, um den störenden Reizhusten möglichst zu vermeiden. Jetzt spürt sie ihren Atem rundherum im ganzen Rumpf. Sie ist voller Freude über die neu gewonnene Freiheit, das Gefühl von innerer Weite, Ruhe und Sicherheit. Die Hustenanfälle sind inzwischen äussert selten, und Frau M. wagt sich wieder in Kirche und Konzertsaal.

Stottern
G. stotterte seit dem Kindergarten, wenn er unter Druck stand. In seiner Lehre musste er häufig telefonieren. Seine Chefin riet ihm dringend, etwas gegen sein Stottern zu unternehmen. Der Leistungsdruck wuchs, sein Stottern verschlimmerte sich und er musste schliesslich seine Lehre abbrechen.

Mit G. arbeite ich ausschliesslich im Stehen, Sitzen und in der Bewegung. G’s Atem ist ohne Spannkraft – grau und unscheinbar –, sein Stand eine weitverbreitete Fehlhaltung: Knie durchgedrückt, Hohlkreuz, fester Rükken. Zwar kräftig gebaut, fehlt es an Power und innerer Dynamik. Oft ist er matt und erschöpft. Das gleiche gilt für seine Artikulationswerkzeuge. Zunge, Lippen, weicher Gaumen sind schlaff und müssen erst lernen, wach zu werden und sich gezielt und flink zu bewegen.

Grundvoraussetzung einer freien Stimme sind ein entspannter Körper und ein freier Atem. Einfache, dynamische Körperübungen helfen ihm, Spannungen, Blockaden und Muskelstaus ab- und ein vertieftes Körperbewusstsein aufzubauen. Er spürt wie empfindlich sein Atem auf psychische Situationen reagiert: dass Angst eng macht und er in Stress-Situationen kurz- und hochatmig wird.

Wir arbeiten an der Freiheit des Zwerchfells, intensivieren die Atmung und lösen die feste Rücken- und Zwischenrippenmuskulatur. G. übt zuhause selbstverantwortlich weiter, denn er weiss: nur Wiederholung führt zur Meisterschaft. Er lernt, seine Haltung auch im Sitzen und Stehen so zu korrigieren, dass sein Atem frei und ungehindert fliessen kann. Er lernt in schwierigen Situationen tief auszuatmen. Seine Stimme wird kraftvoller und tragfähig, sein Selbstbewusstsein nimmt zu. Das Üben konkreter Gesprächssituationen hilft zusätzlich Hemmungen abzubauen. Heute ist seine Sprachflusshemmung kaum mehr bemerkbar. Kürzlich hat G. mit Erfolg das KV abgeschlossen.

Asthma
Herrn K., 55, bereitete sein Berufsasthma (Maurer/Baustaub) 18 Jahre lang schwerwiegende Atembeschwerden. Seit drei Jahren ist er arbeitsunfähig. Herr K. wurde mir von einem Spezialisten für Lungenkrankheiten überwiesen. Mit Atemtherapie kam er zum ersten Mal in Berührung.

Herr K. schildert mir, wie Asthmaanfälle seinen Kehlkopf verengen. Er bringt dann die Luft weder rein noch raus. Dieser unangenehme Zustand kann bis zu 2 Std. dauern. In der Behandlungsarbeit löse ich die Atemhilfsmuskulatur, den festen Thorax und die Verkrampfungen im Rücken. Mobilisation der ganzen WS und Dehnung der Halswirbelsäule schaffen Erleichterung. So wird Atmen für Herrn K. Schritt für Schritt weniger mühevoll. Für ihn eine neue Erfahrung: Sein Atem bewegt jetzt Rücken, Flanken und Becken. Über die Sammlung auf Einatem-Ausatem-Atemruhe bekommt er mehr Atemraum. Wir erarbeiten die Zusammenhänge von Körperhaltung und Atemgeschehen.

Ich leite ihn zu selbständigem Üben im Alltag an: Beim Treppensteigen und jedesmal beim Aufstehen bewusst und tief ausatmen und Schultern loslassen, durch spezielle Klopfübungen die Rippen geschmeidig machen, mit Tönen von Konsonanten wie m, s, sch und f den Ausatem verlängern. Dank regelmässigem Üben und Geduld hat sich das Atemmuster von Herrn K. deutlich verbessert.

Mein Credo
Atemtherapie ist ein offenes Konzept und keine dogmatische Angelegenheit. Sie kann als individuelle Einzelarbeit – wo die ganz persönliche Situation und Entwicklung im Vordergrund steht – oder als Unterricht in Gruppen stattfinden. Mir ist besonders wichtig, dass Menschen sich selbst über den Atem spüren lernen und an Lebendigkeit und Ausdruckskraft gewinnen. Ob Sie einzeln oder in Gruppen, als Gesunder oder Kranker üben: Begegnen Sie jedem Augenblick mit fasziniertem Anfängergeist und einer Portion Humor. Lernen und integrieren Sie die Übungen in Beruf und Alltag mit heiterem Herzen und leidenschaftlicher Gelassenheit – «Es atmet der Mensch.» Sulla Bodmer Steffen



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